Selbstüberschätzung (viel Text)

Hallo,

ich kenne da einen älteren Herrn, der jetzt ca. 1 Jahr fliegt. Das erste Mal sah ich ihn nahe einer Schnellstraße an einer Nebenkreuzung fliegen und "entfernte" ihn von dort erfolgreich. Ich weiß, dass er meist alleine fliegt und allenfalls sein Frau dabei ist, die dann irgendwo sitzt und ein Buch liest. Sein erstes Modell war eine Cessna-Schaumwaffel, sein zweites der Twinstar. Vor ein paar Tagen schickte er mir eine mail und fragte, ob ich ihm sein neues Modell einfliegen kann, ein Funjet von Multiplex. Ich kannte das Modell noch nicht und ließ mich deshalb mal überraschen. Wir trafen uns vor der Stadt auf einer Wiese und er holte das Modell aus dem Auto. Natürlich musste er auch mal Anlage und Modell einschalten, damit ich mir mal die Ausschläge der Ruder ansehen konnte. Nach meinem Gefühl waren die schon einmal zu groß, also musste er sie reduzieren. Da er sich mit seinem Sender nicht richtig auskannte, versetzten wir die Anlenkdrähte an den Servos. Auch der Motorlauf ließ zu wünschen übrig. Starke Vibrationen waren zu vernehmen. Bei näherer Betrachtung fiel auf, dass die Propellernabe nicht mittig saß. Das deutete auf ein zu großes Loch für den kleineren Propellermitnehmer hin. Da wir nichts anderes hatten. wickelte ich Isolierband um den Mitnehmerzapfen und auch das Problem war erledigt. Der Blick in den Rumpf ließ Verwunderung aufkommen. Vorne, vor dem Empfänger, dahinter, rechts und links vom 2-zelligen 2000er Lipo klebte in dicken Strängen Kinderknete zur Fixierung. Ich legt ihm nahe, das demnächst zu ändern, Blei zu besorgen und an den entsprechenden Stellen leichteres Material zur Fixierung zu verwenden. Erklärte ihm kurz, dass ein Klümpchen Blei weit vorne mehr ausrichtet, als die Zugabe rauher Mengen von Knete, die gleichmäßig verteilt wären. Gut, wir waren bereit zum Start. Es war gestern sehr windig und deshalb konnte ich den Schwerpunkt nur als in etwa stimmend bestätigen. Laut Anleitung soll der 30 mm hinter dem Nasenleistenknick an einer halbrunden Kugelabformung liegen. Diese Halbkugel konnten wir am ganzen Modell nicht finden, nur in der Anleitung war sie abgebildet. Und zur Schwerpunktbestimmung soll das Modell auch noch waagerecht liegen. Das war mir fremd. Egal. Der Besitzer selbst pfefferte das Modell weg und ich versuchte zu steuern. Nach 50 m war klar, dass der Flieger total schwanzlastig war. Ich flog den ersten und einzigen Bogen noch zu Ende und landete antriebslos. Das Modell war kaum zu steuern und ich bemühte mich so wenig möglich die Ruder zu bewegen. Deshalb meinte ich zu dem Kollegen, dass er selbst wohl nicht das Modell auf die Erde bekommen hätte. Der war aber anderer Meinung und sagte, er hätte mehr Flugerfahrung als ich glauben würde. Darüber musste ich angesichts seiner beiden Modelle innerlich lachen. Niemand hatte von uns Blei dabei. Ich schätzte die erforderliche Zugabe auf

50 g. Wir schoben die Knete nach vorne und klebten außen an den Rumpf eine riesige Unterlegscheibe. So, das sah zwar nicht sehr schön aus, aber es war ein Schritt in die richtige Richtung. Wieder schmiss der Kollege das Teil weg und siehe da, nach kutzer Eingewöhnung flog der Funjet sauber dahin. Die Rollen waren nicht zu schnell oder zu langsam, Höhe war auch gut, nur der Wind störte oft die Flugbahn. Kurz bevor der Akku ganz leer war, landete ich sauber. Alle waren bester Laune und Stimmung und wir gingen zum Auto zurück.

Schon von vornherein war klar, dass der Besitzer auch selber fliegen wollte. Aber bei dem Wind ... ? Mehrmals riet ich ihm davon ab. Nein, er wolle fliegen. Wozu wäre er sonst hergekommen? Ich sagte ihm, dass der Funjet ein völlig anderes Modell wäre und mit seinen Hochdeckern nicht zu vergleichen wäre. Auch, dass dieses Modell sowieso zu schwierig wäre, weil er eigentlich erst Erfahrungen mit einem Tiefdecker oder anderem nicht neutral fliegenden Modell sammeln müsste. Nein, er wollte fliegen. Ich sagte, er müsse ständig steuern und korrigieren bei dem Wind und das Modell stabilisiert sich nicht von selbst. Und wenn er Probleme hätte, dann könne ich nichts mehr für ihn tun. Nix zu machen.

Also warf er wieder das Teil weg, ich flog es ihm nach oben und drückte ihm seinen Sender in die Hand. Er flog so ziemlich alle Manöver die man als ungeübter Pilot fliegen konnte und nach ca. 1 min. krampfhaften Versuchens das Modell zu steuern, stürtzte er mit Vollgas senkrecht ab. Das war zu erwarten. Wir sammelten die vier zerbrochenen Teile ein und wenn er von gestern auf heute fleißig geklebt hat, dann treffen wir uns heute nochmals.

Meine Erkenntnis aus dieser Geschichte und mein Rat an alle Fluganfänger:

  1. Versucht nicht _alleine_ das Modellfliegen zu erlernen.
  2. Versucht Anschluss zu anderen Piloten zu finden. Ihr könnt von deren Erfahrungen, die ihr nicht habt, nur profitieren.
  3. Wenn der Wind zu stark ist, fahrt wieder nach Hause, auch wenn es schwerfällt. Es war die richtige Entscheidung.
  4. Falscher Ehrgeiz ist bei dem Hobby fehl am Platze. Es schadet nur dem Modell und eurer Geldbörse.
  5. Hört auf erfahrene Piloten, die können die Situation besser einschätzen als ihr.
  6. Seid ehrlich zu euch selbst und wägt gut ab, ob ihr in der Lage seid, die Situation zu beherrschen.
  7. Macht in eurer Entwicklung als Pilot keinen zu großen Sprung im Bezug auf das Modell. Vom Twinstar zum Funjet ist der Sprung eindeutig zu groß.

Tschü Günther

Reply to
Günther Grund
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